Zwei junge Menschen stehen Rücken an Rücken und blicken auf ihre Smartphones, umgeben von Überwachungskameras und digitalem Licht. Symbolbild für die zunehmende Überwachung und den Verlust von Privatsphäre in Europa durch die geplante Chatkontrolle.

Vom Datenschutz zum Überwachungsstaat?

Wie seit den 1970ern Schritt für Schritt unsere Privatsphäre verloren ging

Seit mehr als fünf Jahrzehnten verschiebt sich die Grenze zwischen Freiheit und Kontrolle – leise, schleichend, oft mit den besten Absichten. Was in den 1970er Jahren als Schutz des Bürgers vor staatlicher Willkür begann, ist heute zu einem dichten Netz aus Datenerfassung, Überwachung und Kontrolle geworden, das nahezu alle Lebensbereiche durchzieht.

Die geplante Abstimmung des EU-Rates über die sogenannte Chatkontrolle am 14. Oktober 2025 ist kein Bruch mit der Vergangenheit, sondern ihr logischer Endpunkt. Sie steht am Ende einer langen Reihe von Gesetzen, die Schritt für Schritt die Privatsphäre ausgehöhlt haben – immer im Namen der Sicherheit, des Kinderschutzes oder der Terrorabwehr.


Der Anfang dieser Entwicklung reicht zurück ins Jahr 1970, als Hessen das weltweit erste Datenschutzgesetz einführte.
Damals sollte es den Bürger vor staatlichem Missbrauch persönlicher Daten schützen – ein Pionierakt, der bald in das Bundesdatenschutzgesetz von 1977 mündete. Die Idee war fortschrittlich, die Umsetzung naiv: Indem man Datenerfassung erstmals gesetzlich regelte, machte man sie auch rechtlich möglich.

1983 setzte das Bundesverfassungsgericht mit dem Volkszählungsurteil einen Meilenstein. Es formulierte das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung – jeder Mensch solle wissen und kontrollieren können, was über ihn gespeichert wird. Doch dieses Grundrecht blieb lange ein theoretischer Schutzwall, während sich in Verwaltung, Wirtschaft und später in der digitalen Infrastruktur neue Formen der Datensammlung etablierten.

Mit dem Siegeszug des Internets in den 1990er Jahren wurde Kontrolle zum technischen Standard. Die EU-Datenschutzrichtlinie von 1995 sollte einheitliche Regeln schaffen, öffnete aber gleichzeitig die Tür für den europäischen Zugriff auf Datenströme.

In Deutschland begann man, Überwachungsbefugnisse für Polizei und Nachrichtendienste auszubauen. Das G-10-Gesetz zur Telekommunikationsüberwachung schuf schon vor der Jahrtausendwende eine rechtliche Grundlage für Eingriffe, die bis dahin undenkbar gewesen wären.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 bekam diese Entwicklung einen mächtigen Schub. Unter dem Eindruck globaler Angst wurde der Schutz der Privatsphäre zugunsten nationaler Sicherheit zurückgestellt.

In Deutschland verabschiedete die rot-grüne Bundesregierung zwei Anti-Terror-Pakete, die den Zugriff auf persönliche Daten erheblich erweiterten. Der Staat wurde zum präventiven Akteur, der lieber alles wissen wollte, bevor etwas passiert.

2006 kam mit der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung der nächste Schritt:
Alle Verbindungsdaten sollten sechs Monate lang gespeichert werden, unabhängig davon, ob jemand verdächtig war oder nicht. Das Bundesverfassungsgericht kippte die deutsche Umsetzung 2010, der Europäische Gerichtshof erklärte 2014 auch die EU-Richtlinie für unvereinbar mit den Grundrechten.
Doch die Idee, Sicherheit durch totale Datenspeicherung zu schaffen, blieb politisch bestehen.

Der digitale Fortschritt der 2010er Jahre verschob die Grenzen weiter. 2016 trat die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) in Kraft – gefeiert als Sieg der Privatsphäre, aber in der Praxis kaum ein Hindernis für staatliche Datensammelwut. Im selben Jahr verabschiedete der Bundestag das Gesetz zur Online-Durchsuchung, das den sogenannten Bundestrojaner legitimierte – ein Instrument, mit dem Ermittler in private Computer eindringen können.

2017 folgten das Prostituiertenschutzgesetz mit seiner Registrierungspflicht und neue Überwachungsrechte für das Bundeskriminalamt. All das geschah unter wohlklingenden Begründungen: Schutz vor Zwangsprostitution, Menschenhandel, Extremismus.

Die Nebenwirkung: Der Staat bekam immer tiefere Einblicke in das Leben unbescholtener Bürger.

In den 2020er Jahren verlagerte sich die Kontrolle endgültig ins Digitale. 2021 verschärfte Deutschland die Gesetze gegen sexualisierte Gewalt an Kindern – mit erweiterten Speicherpflichten und neuen Ermittlungsbefugnissen.

2022 schlug die EU-Kommission die Chatkontrolle vor – eine Verordnung, die Anbieter digitaler Kommunikation verpflichtet, private Nachrichten automatisch nach Missbrauchsdarstellungen zu durchsuchen.

Damit wäre erstmals in der europäischen Geschichte das Brief- und Fernmeldegeheimnis faktisch aufgehoben. Verschlüsselung, bisher der letzte Schutzraum für vertrauliche Kommunikation, würde ausgehebelt. Datenschützer warnen seitdem, diese Regelung würde das Prinzip der Unschuldsvermutung im digitalen Raum abschaffen.

Dass der EU-Rat am 14. Oktober 2025 über genau diesen Entwurf abstimmen soll, zeigt, wie weit sich Europa vom ursprünglichen Ideal des Datenschutzes entfernt hat.

Die moralische Begründung – Kinderschutz – ist unanfechtbar, und gerade deshalb politisch wirkungsvoll. Wer dagegen argumentiert, riskiert, als Gegner des Schutzes der Schwächsten zu gelten. Doch hinter diesem moralischen Schutzschild steht eine schleichende Normalisierung der Totalüberwachung.
Was als Ausnahme begann, ist längst die Regel geworden.

Rückblickend ergibt sich ein klares Muster. Jede Krise, jeder Skandal, jeder Schockmoment erzeugt politischen Druck, der zu neuen Gesetzen führt. Kaum eine dieser Maßnahmen wurde je zurückgenommen.

Die Vorratsdatenspeicherung mag formal aufgehoben sein, aber ihre Logik lebt in neuen Formen fort – in der Chatkontrolle, in biometrischen Datenbanken, in KI-gestützter Gesichtserkennung. Der Staat agiert heute präventiv, umfassend und vernetzt. Und der Bürger? Er hat sich längst daran gewöhnt, dass Überwachung etwas mit Sicherheit zu tun hat.


Das ist die eigentliche Tragik dieser Entwicklung

Freiheit verschwindet nicht plötzlich. Sie wird scheibchenweise aufgegeben – oft mit Applaus.

Der Preis der Sicherheit ist die Gewöhnung an Kontrolle.
Die geplante Abstimmung im Oktober ist daher nicht nur ein technisches oder juristisches Ereignis, sondern eine Wegmarke in einer langen Geschichte der Selbstaufgabe.

Sie zwingt uns zu einer Frage, die kaum jemand wirklich stellt:
Wollen wir tatsächlich eine Gesellschaft, in der der Staat in jeden privaten Austausch hineinschauen darf – solange er verspricht, uns zu beschützen?

Wer diese Frage ernsthaft stellt, erkennt

Der Kampf um Privatsphäre ist kein Randthema, sondern der Kern dessen, was Freiheit in einer digitalen Demokratie bedeutet.